Batman, die Amokschüsse von Aurora und die unbedingte Pflicht, die Seele des Kinos zu retten

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Dichter Peter Handke beschrieb, wie er einst Antonionis »La Notte« sah, im Zentrum von Graz, er stand danach an nächtlicher Haltestelle, »damals erfuhr ich, weil ich im Kino war, zum ersten Mal, weit über alle Selbstgefühle hinaus, so etwas wie ein Weltgefühl«.

Es darf behauptet werden, dass solch unmittelbare Verwandlung nur das Kino schafft. Wo Lust am Schauen und Versunkenheit größer nicht sein können. Theater ist Demokratie des Auges, man kann die Bühne mit eigener Blickregie ausmessen, Kino aber ist Diktatur des Auges, die Bilder bannen, zwingen dich; im Theater bist du mit allen, im Kino jedoch bist du allein - typischerweise beginnt Kino damit, dass der Zuschauer, wenn es dunkel wird, ein wenig tiefer in den Sessel rutscht. Du verabschiedest dich von der Welt.

Man hat daher, in den Momenten nach einem Kinofilm, der in uns eindrang, ein ganz anderes Verhältnis zum Regen, zum Hochschlagen eines Mantelkragens, zum Anzünden einer Zigarette, zum Wind, zu einem Schluck an irgend einer Bar - man wähnt sich selber noch immer in einem Film, »der atlantik passt jetzt in ein glas rotwein«, dichtet Albert Ostermaier, dessen Lyrik ohne Kino nicht denkbar ist. Handkes innigster Wunsch: »Weitere Filme für weitere Heimwege!«

Dann aber endet Kino so furchtbar wie im »Century 16« in Aurora, Vorort von Denver. Kein erhebender Heimweg. Zwölf Tote.

Der Amokmörder rief: »Ich bin Joker, der Feind Batmans!« Und »Jokers Rückkehr«, so sollte »The Dark Knight Rises« auch heißen - jedoch der Tod des Joker-Darstellers Heath Ledger vereitelte den Plan. In der Filmgeschichte bedeutete Rückkehr oft eine Heraufbeschwörung des Unheimlichen, Drohung von dessen ewiger Herrschaft. Gegen alle Illusion von verbesserungsfähiger Welt. »Die Rückkehr des Golem«, »Die Rückkehr der Zombies«, »Alien - Die Rückkehr«, »Die Rückkehr der Jedi-Ritter«. Hitchcock plante sogar »Die Rückkehr der Vögel«.

Auch der Zustand unserer Welt gemahnt ans Unheimliche, das aus den Tiefen der Geschichte auf neue Weise über uns kommt. »Die Wiederkehr des Menschenopfers« - so bezeichnete Hans Magnus Enzensberger das Charakteristikum der Zeit nach dem 11. September 2001. Diese Wiederkehr meint das neu »belebte« Mysterium jenes Menschen, der im Massaker zum Richter der Welt zu werden gedenkt.

Der Selbsterhaltungstrieb hat an bindender Kraft verloren, aber die Lust am Töten ist beileibe nicht nur gekettet an ideologische Verblendungen, revolutionäre Opfermythen, religiöse Hingebung, wahnpolitische Ergebenheiten. Nicht mehr nur ethnische Märtyrer und programmatische Fanatiker greifen zum Sprengstoff, zur Waffe. Lust an der eigenen Auslöschung, lange Zeit Signum von Rest-Archaik eines zählebigen »Mittelalters« irgendwo im Fernen, abseits der Moderne, griff auf den hoch entwickelten Westen über. Lauert in jedem gekündigten Mitarbeiter ein Bandit? Jeder höhere Turm schürt die Verdachtsfantasie, er sei womöglich Schützenplatz für narzisstisch gekränkte, unglücklich liebende, karrieregeknickte, unverstandene Vollstrecker. Die vielleicht gestern noch gar nicht wussten, dass sie es heute sind. Dietmar Dath schreibt in der FAZ von den Einsamen, die eine »Guerilla der Panik« bilden.

Diese Guerilla hat nun auch das Kino entweiht? In Woody Allens »Purple Rose of Cairo« verlässt eine Filmgestalt die Leinwand, es ist dies ein romantisches, heiteres Wechselspiel zwischen Fantasie und Wirklichkeit - und für kitzlig verwirrende Sekunden verfielen wohl auch Zuschauer in Aurora, bei der Vorführung von »The Dark Knight Rises«, der Illusion, dass jener Mann, der da bewaffnet das Kino betrat, ein Werbeclou sei, eine Verlängerung des künstlich Dämonischen in die schöne Aufgekratztheit einer Premierenshow. Einer mit Gasmaske, da am Seitengang, ähnlich der Maulkorbmaske des bösen Bane im Film. Und im Kino war es dunkel wie auf der Leinwand - die Nachtfarbe als drohende Grundstimmung des Batman-Streifens. Stimmig, so nennt man das.

Heiner Müller lässt in »Hamletmaschine« den Hamlet-Darsteller das Foto des Autors zerreißen, »ich spiele keine Rolle mehr. Meine Worte haben mir nichts mehr zu sagen. Meine Gedanken saugen den Bildern das Blut aus.« Die Realität saugt auch dem Kino das Blut aus, spuckt es ihm vor den erschrockenen Zauber. Jenes Musical-Theater in Moskau übrigens, in dem vor Jahren tschetschenische »Schwarze Witwen« ein Selbstmordattentat verübten, es war zwischenzeitlich - ein Kino.

Dennoch und trotzdem! Heimwege! Lob des Kinos! Den neuen Batman-Film hat der Mörder von Aurora nicht gesehen, »und er hat auch nichts mit ihm zu tun«, schreibt »Die Welt«. Dieser Mörder habe ausgesehen »wie die gruseligen Gestalten der Sondereinsatzteams von Polizei und Armee. Vielleicht sollte man eher dort nach verhängnisvollen Vorbildern suchen.«

Kino möge bleiben: ein Wesen mit Seele. Gut, dass die immer wieder nachwächst und solch Feld also nicht nur der Hydra überlassen bleibt. Wo eh schon so viel verloren ist: der Eismann zwischen den Reihen, oder: dass das Wort vom »Landfilm« ein besonderes Wort war, ein Freudenruf war das (»der Landfilm kommt!«), ein Sonntagswort wie Gottesdienst, nur erlaubte dies Heilige auch das Klappern mit den Stühlen und altmodische Zwischenrufe wie Ah! und Oh!

Seele des Kinos. Man denke nur an das wiedererbaute Cinema Jenin im Westjordangebiet. Es war, seit Mitte der fünfziger Jahre, größtes Lichtspieltheater der Westbank. Dann: von Bomben zerstört. Die Kulturstätte nun erneut als Krönung einer Sehnsucht nach dem ganz alltäglichen Heil. Der österreichische Erzähler Christoph Ransmayr hat in seiner Reiseerzählung »The Last Picture Show« aus dem Osten Sri Lankas berichtet, von einer vernichteten Gegend, ruinös herüberragend aus Zeiten des Krieges. Ein Mönch zeigt dem Schriftsteller das zerschossene, grün überwucherte Kino von Pottuvil, zwischen dessen verkohlten Stuhlreihen Wasserbüffel grasen. Ransmayr schreibt: »Wer weiß, sagte der Mönch, vielleicht werde das Kino eher wiedererstehen als die Tempel. Was sei schließlich schöner und leichter als ein Theater, dessen Krieger, Heilige und Könige, ja sogar Sturmfluten und Elefanten aus Licht! bestünden, aus nichts anderem als Licht.« Es ist der Filmvorführer Iskremas, der im sowjetischen Film »Leuchte, mein Stern, leuchte« von Alexander Mitta mit seinen Zelluloidrollen zum herzerwärmenden Agitator der Revolutionszeit wird. Und in Fellinis »Amarcord« ist es das Schwüle, Mystische, fast ein wenig Verworfene eines Kinos von Rimini, wo die pubertär gierigen Blicke der Jugend zum Ausdruck frecher Wünsche werden.

Kino öffnet das Gemüt zur Welt, die doch eine schönere Welt werden möge! In prophetischer Überspitzung dieser Veränderungskraft erwächst just das Kino sogar zur utopisch nachholenden Richterstätte: Ein kleines französisches Lichtspieltheater ist der Ort, an dem Hitler, Goebbels und andere Nazigrößen bei einem Brandanschlag getötet werden - Quentin Tarantinos »Inglourious Basterds« adelt das Kino, indem dieses sich gleichsam zum Selbstmordattentäter macht. Ein Kino opfert sich für das, was nur im Kino wahr sein darf. Am Ort der leicht entflammbaren Herzen operiert das leicht entflammbare Material, aus dem Kino entsteht, als Partisan einer nur im skurrilen Märchen möglichen Gerechtigkeit.

Freilich, ob im Kino oder draußen: Es ist längst, als sei uns ein heimliches drittes Auge gewachsen, das jede Umgebung nach allem abtastet, was sich als versteckter Amok erweisen könnte. Unsere Blicke in fremde Augen, im Bus oder auf Märkten, verlor seine unschuldige Neugier. Wir ertappen uns in Abständen bei einem instinktiven Misstrauen. Wir wissen uns in einer Welt der Endzuständler, deren Verzweiflungs-Tatendrang, irgendwann vielleicht, auf eine grausame Initialzündung setzt. Unser Lebensraum wurde zum Ort, der unserer Vorstellungskraft eine harte Aufgabe abverlangt: die beglückende Einbildung nämlich, Orte des Terrors lägen auch zukünftig weit entfernt.

Und wir, wir seien in einem Film, der, wenn er schon nicht gut endet, so doch gut und friedlich an sein Ende kommen möge.

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